Düstere Gegenwart, aber rosige Zukunft?

Kein Schweizer in der 2. Runde des US Open, keine Frau oder Mann aktuell in den Top 100 des Jahresrankings. Dennoch steht das Schweizer Tennis nicht so schlecht da, wie man meinen könnte.

Seit 2005 ist Severin Lüthi Captain des Schweizer Davis-Cup-Teams, das am Freitag und Samstag in Biel auf Peru trifft © KEYSTONE/PETER SCHNEIDER

Das Jahr 2024 wird nicht als ein gutes in die Schweizer Tennisgeschichte eingehen, egal, was das Schweizer Davis-Cup-Team am Freitag und Samstag gegen Peru auf den Platz zaubert. Das zu Ende gegangene US Open war ein Tiefpunkt; erst zum zweiten Mal in den letzten 30 Jahren schaffte es kein Schweizer, Mann oder Frau, in die 2. Runde eines Grand-Slam-Turniers. Und erstmals seit 1986 erreichte bei keinem der vier Major-Events eines Jahres ein Schweizer die zweite Woche.

Nicht allzu dramatisch sieht dies allerdings der in der Vergangenheit durchaus auch kritische Davis-Cup-Captain Severin Lüthi. Etwas überraschend sagt der langjährige Coach von Roger Federer: "Auch wenn es jetzt gerade ein bisschen blöd klingt: Ich denke, die Situation des Schweizer Tennis ist heute wahrscheinlich besser als vor ein paar Jahren."

Elf Schweizer Männer in den Top 450

Die Zahlen untermauern Lüthis These. Im Jahr 2017 übertünchten Roger Federer und Stan Wawrinka in den Top Ten das Fehlen eines konkurrenzfähigen Unterbaus. Im Herbst standen nach dem Rücktritt von Marco Chiudinelli keine weiteren Schweizer in den Top 450 der Weltrangliste. Lüthi warnte schon damals vor dieser Malaise. Aktuell fehlt zwar die Spitze, zwischen Position 124 (Alexander Ritschard) und 420 (Jakub Paul) stehen aber nicht weniger als elf Schweizer Männer. Vier von ihnen sind 22-jährig oder jünger. Auch bei den Frauen stehen deren neun in diesen Weltranglisten-Positionen.

Für Lüthi ist die aktuelle Situation denn auch eine Momentaufnahme, die schon in einem Jahr wieder wesentlich besser aussehen könnte. Er erinnert daran, dass noch 2023 dank erfolgreicher Qualifikanten sieben Schweizer Männer und Frauen im Hauptfeld des French Open und sogar deren acht in Wimbledon standen. Auch dieses Jahr scheiterte Leandro Riedi in der letzten Qualifikationsrunde nach eigenem Matchball, Jérôme Kym schlug am US Open zum Match auf.

Das Fehlen von Bencic

Es gibt gute Erklärungen - keine Ausreden, wie Lüthi betont - für die aktuelle Baisse. Die Olympiasiegerin und ehemalige Weltnummer 4 Belinda Bencic fällt wegen ihrer Mutterschaft aus, will aber spätestens im nächsten Jahr zurückkehren. Céline Naef, die vor vierzehn Monaten in Wimbledon ihr Grand-Slam-Debüt gab, hat zwar zuletzt stagniert, ist aber noch immer erst 19-jährig. "Ich sehe das von aussen, aber man konnte jetzt auch nicht erwarten, dass sie gleich in die Top 20 marschiert und Grand-Slam-Halbfinals erreicht", findet Lüthi. "Das schaffen nur die absoluten Ausnahmen wie Coco Gauff."

Bei den Männern fallen die vielen Verletzungen auf. Dominic Stricker verpasste nach seinem Durchbruch mit dem Achtelfinal am US Open in diesem Jahr die gesamte erste Saisonhälfte mit hartnäckigen Rückenproblemen. "Er wäre sonst mit Bestimmtheit in den Top 100." Leandro Riedi gewann bis Juni auf Challenger-Stufe zwei Turniere, erreichte drei weitere Finals und war auf direktem Weg in die Top 100, musste seine Saison aber letzte Woche wegen chronischer Knieschmerzen beenden.

Wie schnell es auch in die andere Richtung gehen kann, zeigt derzeit Jérôme Kym. Der Aargauer gab 2019 kurz vor seinem 16. Geburtstag als bisher jüngster Schweizer sein Debüt im Davis Cup, wurde seither aber immer wieder durch Verletzungen zurückgeworfen. Die zweite Hälfte des letzten Jahres verpasste er wegen einer Knieoperation. Nun aber hat er innerhalb von fünf Monaten mehr als 350 Plätze gutgemacht und ist als Nummer 151 des ATP-Rankings so gut klassiert wie noch nie.

Vielversprechende Junioren

Zudem stossen zumindest bei den Männern mit dem Basler Henry Bernet und dem Zürcher Flynn Thomas vielversprechende Nachwuchstalente nach. "Man sollte immer auch schauen, was man verbessern kann", betont Severin Lüthi. "Man muss aber auch langfristig denken und nicht voreilig alles über den Haufen werfen." Meist sehe man erst nach fünf oder zehn Jahren, ob es richtig sei, was man im Nachwuchs unternehme.

Das Potenzial ist also da, die Chancen sind intakt, dass 2024 als Ausreisser nach unten in den Schweizer Tennisannalen stehen wird, nicht als Anfang vom Ende.

SDA
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